
Der Schritt ins Ungewisse
Sarah saß in ihrem Lieblingscafé, aber heute schmeckte der Cappuccino nach gar nichts. Draußen klirrte der Februarwind gegen die Fenster, drinnen summte der Kaffeeautomat leise vor sich hin. Normalerweise mochte sie diese Geräusche. Sie fühlten sich nach Zuhause an. Aber heute war da nur dieser Kloß im Magen.
"Du bist doch nicht dumm, Sarah", hatte ihr Vater am Telefon gesagt. "So einen sicheren Job bekommst du nie wieder. Dein eigenes Café ist eine nette Idee – aber das Leben ist kein Wunschkonzert."
"Glaub mir, ich versteh dich", meinte Julia, ihre beste Freundin. "Aber die Realität ist halt, dass kleine Cafés sterben wie die Fliegen. Das ist irre viel Arbeit – und wenn du Pech hast, machst du am Ende sogar Schulden."
"Das wäre schade", hatte ihr Chef gesagt, als sie ihm zögernd mitgeteilt hatte, dass sie noch unsicher sei. "Sie haben so viel Potenzial. Aber wenn Sie lieber in einer kleinen Backstube versauern wollen …"
Sarah seufzte und drehte den Löffel in ihrer Tasse. Der Milchschaum war fast verschwunden. Sie wusste, dass ihre Familie und ihre Freunde es nur gut meinten. Aber es war, als würde jede dieser Stimmen eine kleine Tür in ihr zuschlagen.
Sie zahlte und trat hinaus in die Kälte. Der Wind biss ihr ins Gesicht, doch sie ging trotzdem langsam Richtung See. Seit ihrer Kindheit kam sie hierher, wenn ihr Kopf zu voll wurde.
Auf der Bank am Ufer saß Jakob, die Hände in den Taschen seiner dicken Jacke vergraben. Er sah auf, als sie sich neben ihn setzte.
"Du siehst aus, als würdest du gegen einen Drachen kämpfen", sagte er.
Sarah rieb sich die kalten Finger. "Eher gegen eine ganze Armee."
Jakob grinste. "Wieder mal alle klugen Ratschläge eingesammelt?"
Sarah nickte. "Ich versteh ja, warum sie das sagen. Der sichere Job ist vernünftig. Das Café ist ein Risiko. Aber ich … ich will nicht nur vernünftig sein. Ich will nicht in dreißig Jahren aufwachen und mich fragen, ob ich's nicht wenigstens hätte probieren sollen."
"Also, warum probierst du's nicht?"
Sarah starrte auf das Wasser. "Weil ich Angst habe. Wenn ich springe und falle … dann hab ich alles verloren."
Jakob nickte, als hätte er genau diese Antwort erwartet. Dann lehnte er sich zurück. "Weißt du noch, als wir als Kinder über den Fluss springen wollten?"
Sarah musste unwillkürlich lächeln. "Ja. Ich stand ewig am Rand und hab gezögert."
"Und dann?"
"Dann hast du gesagt: 'Spring doch einfach. Ich fang dich auf, wenn's schiefgeht.'"
Jakob grinste. "Genau. Und du bist gesprungen. Bist voll im Matsch gelandet, hast gelacht – und dann bist du nochmal gesprungen. Diesmal hast du's geschafft."
Sarah schwieg. Sie erinnerte sich an das Gefühl, als sie damals gezögert hatte. Und an das, als sie schließlich gesprungen war.
"Vertrauen ist nicht das Wissen, dass alles gut geht", sagte Jakob leise. "Es ist das Wissen, dass du auch mit dem Scheitern umgehen kannst."
Sarah sah ihn lange an. Dann stand sie auf. "Ich glaube, ich weiß jetzt, was ich tun muss."
Jakob lächelte. "Ich weiß es schon die ganze Zeit."
Sarah drehte sich noch einmal zum See um. Der Wind trug ihre Zweifel mit sich fort. Und in ihr wurde es still.
Sie würde springen.