Das Lied der Flüsse


Hoch oben in den Bergen, wo der Wind Geschichten von uralten Zeiten flüstert, entspringen zwei Flüsse. Der eine, ein wilder Geselle, stürzt sich tosend über Felsen, reißt Äste mit sich, wirbelt Kieselsteine auf und tanzt mit unbändiger Kraft durch die Täler. Manchmal brüllt er so laut, dass die Bäume erzittern und die Tiere ehrfürchtig innehalten.

Der andere ist sanft und ruhig. Sein Wasser plätschert leise, umschmeichelt die Ufer, schenkt den Blumen am Rand Nahrung und spiegelt den Himmel in makelloser Klarheit. Er kennt die Kraft der Stille und fließt in geschmeidigen Bögen, ohne je zu drängen oder zu stürmen.

Eines Tages begegnen sich die beiden.

"Komm, Bruder!", ruft der wilde Fluss. "Lass uns rennen, springen, stürzen! Die Welt gehört den Mutigen!"

Der sanfte Fluss lächelt. "Und was ist mit jenen, die innehalten? Die lauschen, sich sammeln, ihre Richtung weise wählen?"

Der wilde Fluss lacht. "Weise? Ach, Bruder! Die Welt ist zu groß für Zögern. Komm, ich zeige dir, was es heißt zu leben!"

Und so eilen sie gemeinsam weiter.

Anfangs ringen sie miteinander. Der wilde Fluss treibt an, stürzt vorwärts, will den Rhythmus bestimmen. Doch der sanfte hält stand, bremst ab, formt Kurven in den Lauf, lehrt den stürmischen Bruder das Atmen.

Allmählich geschieht etwas Wunderbares. Der Wilde beginnt, die Schönheit der Langsamkeit zu spüren, und der Sanfte entdeckt die Lust an der Bewegung. Ihr Wasser vermischt sich, und mit der Zeit entsteht ein neuer Fluss – nicht mehr nur wild, nicht mehr nur sanft, sondern voller Leben, voller Tiefe, voller Balance.

Als sie schließlich das große Meer erreichen, wissen sie: Sie sind gewachsen. Sie sind stärker, reicher, kraftvoller – nicht trotz, sondern wegen ihrer Unterschiede.

Und das Meer empfängt sie mit offenen Armen.