Benjamin | Ein vegetarischer Löwe
"Miaaaauuuuurrr!"
Benjamin gab wieder einmal sein Bestes. Er wollte auch so wild brüllen können, wie seine großen Löwenbrüder. Wenn diese das Maul aufrissen, hatten alle Tiere rundherum Angst. Bei Benjamin klang das eher nach Miauen einer Katze, maximal nach einem Knurren eines Pudelbabys. Als er noch ein kleines Kind war, fanden das auch alle süß. Mit diesem Babybonus war die Welt noch in Ordnung. Mit jedem Jahr wurde es Benjamin immer mehr und mehr bewusst, dass er anders als die anderen Löwen war.
So schlich er sich immer wieder heimlich in den Keller. Er bäumte sich vor dem großen Spiegel auf und brüllte sein Spiegelbild an. Voller Einsatz bemühte er sich besonders grimmig dreinzuschauen und ganz tief und furchteinflößend zu brüllen. Doch sein Gesicht verwandelte sich nur in schräge Grimmassen und die Laute, die hervorkamen waren maximal so furchteinflößend wie das Quietschen einer Tür.
"Was machst du da?" Er blickte sich verwundert um und sah in die Augen von einer Maus. Etwas irritiert, dass sich nicht einmal eine Maus vor ihm fürchtete, antwortete er:
"Ich möchte gerne Brüllen lernen. Ich möchte so gut Brüllen können wie meine großen Brüder."
"Ich finde du brüllst sehr schön!" Eigentlich wollte die kleine Maus ein Kompliment machen, doch Benjamin fing zu weinen an.
"Was bin ich denn für ein Löwe, wenn sich nicht einmal eine Maus vor mir fürchtet. Ich kann ja nicht einmal einer Fliege etwas zu leide tun."
"Das ist doch schön, wenn ich mich nicht vor dir fürchten muss, oder?" Die Maus machte vorsichtig einen Schritt auf Benjamin zu.
"Hmm …?" Benjamin zog seine Stirn in Falten und überlegte. Auf der einen Seite wollte er ein richtig cooler Löwe sein, aber auf der anderen Seite hatte sie Recht. Es ist doch viel schöner, wenn sich die anderen nicht fürchten müssen.
"Ich bin Benjamin. Wie heißt du?"
"Ronja."
"Wollen wir Freunde sein?"
Seitdem sind die beiden richtig gute Freunde. Das musste allerdings ein Geheimnis bleiben. So wie auch die Tatsache, dass Benjamin Vegetarier ist. Ronja konnte er es aber erzählen. Es war schön, dass er ihr alles anvertrauen konnte. So erzählte er ihr, dass er beim gemeinsamen Löwenmahl ein Stück Fleisch in den Mund nahm, um es dann später wieder auszuspucken.
Viele Wochen vergingen und jeden Tag trafen sich die beiden heimlich im Keller. Auch wenn Benjamin froh war, dass sich Ronja nicht vor ihm fürchtete, wollte er trotzdem richtig gut brüllen können. Er wollte einfach so gut es ging normal sein, und da gehört nun mal auch dazu, dass man als Löwe gut brüllen können musste. So trainierten sie gemeinsam. Ronja hatte sich nämlich überlegt, dass es für eine Maus durchaus auch von Vorteil sein könnte. Es wäre doch super, wenn man eine Katze brüllend verjagen könnte.
So standen beide vor dem Spiegel und übten grimmiges Brüllen. Dabei versuchten sie die Lippen schräg nach unten und gleichzeitig die Augenbrauen, soweit es ging, noch oben zu ziehen. Oder ein weiterer Versuch sah so aus, dass sie den Mund weit aufrissen und die Augen eng zusammenkniffen. Sie probierten es mit einem schielenden Blick oder sie hatten nur ein Auge geöffnet und das andere geschlossen. Die Ohren ließen sie dabei von vorne nach hinten und wieder zurück wackeln. Beide, Löwe und Maus, gaben ihr Bestes, um besonders fürchterlich dreinzuschauen, doch es war einfach nur zum Schieflachen.
Noch lustiger wurde es dann beim Brüllwettbewerb. Ronja schaffte ein piepsiges "Grrrrrrr" oder ein gehauchtes "Chhhhh", auch bei Benjamin klang es ähnlich. Bis eines Tages ein wunderschön gesungenes "Ooooh" über seine Lippen kam.
"Was war denn das", wollte Ronja wissen. "Mach das noch mal!"
"Ooooh, Aaaah, Uuuuh" Benjamin sang die schönsten Töne und kreierte dabei wunderschöne Melodien. Ronja klatschte in die Hände.
"Zugabe, Zugabe!"
"Ich bin ein Löwe, das ist klar / Doch bin ich etwas sonderbar / Mein bester Freund ist eine Maus / Sie wohnt bei mir in meinem Haus / Das Brüllen üben wir zu zweit / Uns keiner fürchtet – weit und breit / Doch was wir können das ist Lachen / Schöner ist's als Angst zu machen."
Plötzlich stand die Löwenmutter neben den beiden Freunden. Ganz erschrocken rannte Ronja davon, Benjamin hinterher. In wenigen Sekunden hatte die Maus ihr Ziel erreicht und verschwand in ihrem Versteck. Bumm! Das Mäuseloch war dann doch etwas zu klein für Benjamin und so donnerte er bei vollem Tempo mit dem Kopf gegen die Wand. Dabei verlor er einen Zahn. Dieser kullerte ins Mäuseloch. Völlig benommen drehte er sich zu seiner Mutter um.
"Was macht ihr da", wollte sie wissen.
"Wir spielen fangen!" Etwas anderes fiel ihm in diesem Moment nicht ein.
Seine Mutter schaute ihn entgeistert an und verzog das Gesicht. Unsicher beobachtete der junge Löwe die Reaktion. Wie würde seine Mutter reagieren? Würde sie mit ihm schimpfen? Wird sie es den anderen Löwen erzählen, was sie soeben gesehen hatte?
Doch dann verwandelte sich ihr Gesichtsausdruck in ein Lächeln und das Lächeln wurde zu einem herzhaften Lachen. Benjamin lachte erleichtert mit. Ronja lugte vorsichtig aus dem Mäuseloch hervor und beobachtete Mutter und Sohn. Das Lachen wurde immer mehr und immer lauter. Auch Ronja lachte mit. Schön langsam kamen alle wieder zu Atem.
"Du bist der lustigste, liebste, wunderbarste Sohn, den sich eine Löwenmutter nur wünschen kann." Dabei umarmte sie ihren Benjamin und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
"Aber ich kann nicht Brüllen." Etwas unsicher war Benjamin schon noch.
"Das macht doch nichts. Es wäre doch langweilig, wenn alle das Gleiche könnten," tröstete ihn seine Mutter. "Dafür kannst du singen!"
Mutiger setzte der Löwensohn fort: "Und ich bin Vegetarier!"
"Ich weiß es seit gestern. Da habe ich dich das erste Mal gesehen, wie du heimlich eine Ananas gegessen hast. Ich habe übrigens auch schon überlegt, Vegetarierin zu werden. Ist schließlich gesünder, als dauernd nur Fleisch zu essen!"
Mutig tippelte nun Ronja auf die beiden Löwen zu. Sie hatte etwas in der Hand.
"Kann es sein, dass der dir gehört? Ich glaube, das ist ein Löwenzahn." Sie hielt ihm den Zahn entgegen. Benjamin tastete mit einer Pfote seine Zähne ab. Tatsächlich, da fehlte einer. Mit einem zahnlückenhaften Lächeln im Gesicht bedankte er sich bei der Maus.
"Jetzt musst du mir aber noch deinen kleinen Freund vorstellen!" Dabei schaute die Löwenmutter ganz freundlich zu Ronja.
"Das ist Ronja, die coolste Maus von hier bis Mexiko!" Und mit einer gespielt theatralisch grimmigen Stimme fügte Benjamin hinzu: "Die habe ich zum Fressen gern."